Florian Goebel, Transformationsexperte und Prof. Dr. Jürgen Schulz, Kommunikationswissenschaftler

Selektion im Unternehmenskontext: Was heißt das?

Veröffentlicht am 28.02.2022

Kommunikationswissenschaftler Prof. Dr. Jürgen Schulz und Transformationsexperte Florian Göbel erläutern, welchen Einfluss Selektion auf die Transformation in Unternehmen hat – und wie hilfreich eine falsche Landkarte sein kann.

Experteninterview mit
Piktogramm Experte
Florian Göbel und Prof. Dr. Jürgen Schulz

Darwins „Fitness“ im Unternehmenskontext

Mit „Survival of the Fittest“ war nie das Überleben des Stärkeren gemeint. Tatsächlich hat der Naturforscher Charles Darwin entdeckt, dass die am besten an Umwelteinflüsse angepassten Individuen überleben. Die Selektion entscheidet, welche Individuen einer Population sich durchsetzen können und welche nicht. Nur die am besten angepassten überleben und können sich fortpflanzen. Wir wollen uns der Frage stellen, ob sich dieser Vorgang auch auf Wirtschaftskontexte übertragen lässt. Welche Faktoren entscheiden über die nachhaltige Etablierung oder auch das Sterben von Produktinnovationen und digitalen Neuheiten, internen Transformationen oder gar ganzen Unternehmen? Wenn nach Darwin nur der „Fitteste“ überlebt, wie zeichnet sich diese „Fitness“ in Unternehmenskontexten aus?

Florian Göbel
Florian Göbel
© Henning Scheffen

Florian Göbel, Project Management Office People & Transformation bei Volkswagen Nutzfahrzeuge, hat in China und Deutschland im internationalen und strategischen Personalwesen Erfahrung gesammelt und beschäftigt sich mit Veränderungsmanagement, Kooperationsfähigkeit und internationaler Zusammenarbeit.

Prof. Dr. Jürgen Schulz, Professor für Strategische Kommunikationsplanung an der Universität der Künste Berlin
Prof. Dr. Jürgen Schulz
© privat

Prof. Dr. Jürgen Schulz, Professor für Strategische Kommunikationsplanung an der Universität der Künste Berlin, beschäftigt sich u. a. mit Werbekonzeption, Planspielen, Führungskräftekommunikation sowie Risiko- und Krisenkommunikation.

 

Wenn wir an Transformationsprozesse denken, stellt sich die Frage, welche äußeren Einflüsse dazu führen, dass sich bestimmte Dinge durchsetzen und andere eben nicht – also was bleibt und warum bleibt es? Und wie viel hat eine Transformation mit Evolution zu tun?

Prof. Dr. Jürgen Schulz: Eigentlich hat Evolution wenig mit Transformation zu tun. Die Spezialität der Evolution ist, dass sie zweckfrei erfolgt. Eine Kausalität wird oft später hineingedacht. Wenn ein Tiefseefisch schwarze Schuppen hat, die das Licht so absorbieren, dass er von Feinden schwerer zu erkennen ist, dann sagen wir: Das hat sich die Evolution so ausgedacht. Tatsächlich hat sich dieser Fisch einfach so entwickelt, ohne irgendeinen Zweck. Die Evolution ist zweckfrei und selbstdestruktiv. Für Organisationen und Unternehmen sehe ich insofern die Parallele, dass sie viel aus dem Scheitern, aus Misserfolgen ziehen können, um sich besser an eine geänderte Umgebung anzupassen. 

Herr Göbel, inwiefern gilt das tatsächlich für Unternehmen? Ist der Ausgangspunkt für Transformation das selbstdestruktive Handeln?

Florian Göbel: Natürlich würden Unternehmen nicht sagen, sie seien zweckfrei unterwegs. Aber häufig ist es doch der Zufall, der den Erfolg maßgeblich beeinflusst. In Unternehmen wird von Benchmarks gesprochen, das heißt, es gibt Unternehmen, die etwas besonders gut gemacht haben. Und weil dieses Unternehmen gewisse Dinge gemacht hat, leiten wir daraus ab, dass es so erfolgreich geworden ist.

Und das reicht nicht als Maßstab, auch im Hinblick auf das Thema „Selektion“?

Göbel: Nun, wir haben dann nur ein sehr eingeschränktes Bild. Die tausend Unternehmen, die Ähnliches gemacht haben und gescheitert sind, schauen wir uns ja nicht an, weil wir nicht parallel alle Unternehmen das Gleiche machen lassen, deren Methoden nebeneinanderlegen, sozusagen selektieren und dann sagen: Methode eins war erfolgreicher als Methode zwei. Unternehmenserfolg hat immer auch mit Glück zu tun und natürlich mit Timing. Das ist ganz entscheidend. Wir erleben ja häufig, dass Technologien eingeführt werden, wenn der Markt noch nicht reif ist. Das heißt aber nicht, dass die Technologie schlecht ist. Denn andere Unternehmen führen fünf Jahre später dasselbe Produkt ein, treffen den Geist der Zeit und sind dann erfolgreich.

Heißt: Organisationen sind nicht rational steuerbar. Die Dinge passieren, oft zufällig, und wir unterstellen einen Plan, der aber gar nicht da war?

Schulz: Der Zufall ist tatsächlich ein höchst ungeklärtes Phänomen in der Wissenschaft. Ich bezeichne es eher als produktive Fiktion. Es gibt die Geschichte von der Gruppe Soldaten, die sich in den Schweizer Alpen verirrte, nicht mehr den Weg zurückfand. Sie war in einer aussichtslosen Lage. In letzter Sekunde hat jedoch einer aus der Gruppe in einer Tasche eine Landkarte entdeckt, und damit fanden sie den Weg zurück. Der Clou war: Es war keine Landkarte der Alpen, sondern eine Karte für die Pyrenäen. Und es hat trotzdem funktioniert. Das nenne ich produktive Fiktion.

Sollten wir uns also öfter mal verirren? Wäre das Scheitern nicht der Ausgangspunkt für eine nachhaltige Entwicklung, also für Evolution?

Göbel: Ich bin großer Anhänger des schnellen Scheiterns, des Ausprobierens, sich nicht jahrelang mit Plänen auseinandersetzen. Aber es ist leichter, darüber zu sprechen, wenn das Scheitern in der Vergangenheit stattgefunden hat. Richtig schwierig wird es, über das Scheitern im laufenden Prozess zu sprechen. Sich vor die Leute zu stellen und zu sagen: Ich habe Fehler gemacht, ich habe das Projekt falsch aufgesetzt – das ist nicht leicht. Man will ja, dass einem die Leute morgen oder übermorgen noch vertrauen. Das erfordert eine sehr starke Vertrauenskultur, einen gesicherten Raum, dass die Leute nicht sagen: Siehst du! Ich wusste, er kann es nicht.

Das Prinzip wird in gewissen Branchen weniger problematisch gesehen als bei anderen. Tesla geht sehr offen damit um, dass es noch Defizite gibt.

Göbel: Das hat eine starke kulturelle Komponente. Tesla sieht sich nicht als Automobilhersteller, sondern eher als Softwareunternehmen, das auch Autos auf die Straße bringt. Die Automobilindustrie in Deutschland ist dagegen höchst konservativ, alles muss sicher sein, es geht schließlich um Menschenleben. Wir können eben nicht wie ein Softwareunternehmen sagen: Wir probieren es einfach mal, machen es so gut wie möglich. Das ist nicht die Philosophie eines klassischen Autoherstellers. Bei uns gilt die Devise, was in Kundenhand gelangt, muss sicher sein.

In diesem Zusammenhang stellt sich aber fast zwangsläufig die Frage nach der Selektion. Wie findet Selektion statt, wie kommen Unternehmen auf neue Ideen, wie entscheidet sich, was übrig bleibt?

Schulz: Nun, auf neue Ideen kommt man, wenn man nicht dem Ansatz folgt: Entscheidend ist, was hinten rauskommt – sondern eher im offeneren Modus denkt: Entscheidend ist, was reinkommt, also nach einem Wenn-dann-Prinzip. Für wirklich produktive Entscheidungen muss man jedoch zusätzlich die Perspektive des Schöpferischen einnehmen. Um also eine neue Idee zu entwickeln, sollte im Modus „Was wäre, wenn …? Dann …“ gedacht werden. Um auf eine neue Idee zu kommen, müssen wir also vielmehr das menschliche Vorstellungsvermögen nutzen.

Sind es aber nicht eigentlich immer externe Einflüsse, die die Selektion beschleunigen, sei es eine neue Technologie oder auch ein unabsehbares Ereignis wie die Corona-Pandemie, die ja viele Transformationsprozesse beschleunigt hat?

Schulz: Durchaus kann sich Selektion darauf beziehen, wie wir mit Unsicherheit umgehen. Sicherheit ist ja ein Begriff der Vormoderne. Die Moderne zeichnet sich durch Unsicherheit aus, durch unklare Prognosen. Bis ins 18. Jahrhundert waren die substanziellen Fragen Schicksal und wurden höheren Mächten zugerechnet. Sicherheit ist auch nicht skalierbar, wie beispielsweise auch Gesundheit nicht skalierbar ist. Eine Gesundheit steht unzähligen Krankheiten gegenüber. Wir stehen, ob als Gesellschaft oder in Unternehmen, vor der Herausforderung, uns intellektuell viel tiefer mit dem Thema „Unsicherheit“ auseinanderzusetzen. Die Moderne zwingt uns dazu, uns mit der Unsicherheit zu beschäftigen.

Göbel: Früher war es ja auch in Unternehmen viel einfacher, Sicherheit auszustrahlen. Es wurde weniger hinterfragt, es gab weniger Quellen. Der Werksleiter konnte sagen: So läuft’s! Das hat man dann als Sicherheit wahrgenommen. Und häufig reichte auch nur das Gefühl der Sicherheit. Das hat ja das schöne Beispiel von Professor Schulz gezeigt: Obwohl die Karte komplett falsch war, gab sie den verirrten Soldaten das Gefühl der Sicherheit. Heute müssen Führungskräfte in jedem Fall ehrlicher sein, heute wird man mehr zur Rechenschaft gezogen.

„Aber in Bezug auf die Themen ‚Evolution‘ und ‚Transformation‘ ist für mich die Corona-Pandemie dennoch ein Paradebeispiel, weil wir versuchen, ein sehr komplexes Problem mit nicht ausreichendem Fokus zu lösen, wir haben alle sehr lang abgewartet.“

Florian Göbel
Florian Göbel

Wie viel ehrlicher müssen Führungskräfte werden?

Göbel: Also die Corona-Pandemie war auch diesbezüglich sicher ein Einschnitt. Führungskräfte mussten ehrlich bekennen: Ich weiß es ja auch nicht, wie es weitergeht, ich weiß nicht, wie lange der Lockdown dauert, weiß nicht, wie es dem Unternehmen gehen wird. Die Botschaft war: Ich bin fehlbar, es gibt keinen Marshallplan, wonach wir in sechs Wochen wieder im Büro sind. Aber in Bezug auf die Themen „Evolution“ und „Transformation“ ist für mich die Corona-Pandemie dennoch ein Paradebeispiel, weil wir versuchen, ein sehr komplexes Problem mit nicht ausreichendem Fokus zu lösen, wir haben alle sehr lang abgewartet. Im Endeffekt hat sich gezeigt, dass es nicht hilft, Probleme aufzuschieben. Im Hinblick auf Veränderungsmanagement ist die Corona-Pandemie ein plastisches Beispiel, dass man Dinge nicht löst, wenn man sie nicht angeht.

Die Dinge angehen, sich etwas vorstellen – wird das zu den wenigen Fähigkeiten gehören, in denen wir Menschen der künstlichen Intelligenz noch überlegen sind?

Göbel: Das wird ohnehin spannend, wie sich unser Lebenshorizont durch künstliche Intelligenz verändert. Mittlerweile kann die KI eine Automatisierung und eine Qualität abliefern, wie wir es lange nicht für möglich gehalten haben. Mit welcher Präzision beispielsweise Lackierroboter in den Volkswagenwerken eine perfekte Farbdichte auftragen, ist beeindruckend. Wir werden uns mit den Gedanken vertraut machen, dass Maschinen bald Dinge können, die für uns heute nicht vorstellbar sind. Man denkt vielleicht immer, wir sind jetzt technologisch gesehen am Ende angekommen, viel besser als jetzt kann es nicht werden mit der Technik. Aber das haben wir ja auch vor zehn Jahren schon gedacht.

„Wir müssen uns mehr mit dem Ende von Technologien auseinandersetzen.“

Prof. Dr. Jürgen Schulz

Schulz: Das ist ein wichtiges Stichwort, das Ende. Wir müssen uns tatsächlich mehr mit dem Ende beschäftigen. Das Ende ist eine wichtige Denkfigur, die gerade in Unternehmen viel zu wenig berücksichtigt wird. Wenn die Evolution selbstdestruktiv ist, müssen wir uns mit dem Phänomen des Endes auseinandersetzen, denn darin sehe ich eine Herausforderung im Zusammenhang mit Wandel und Transformation. Wir müssen uns mehr mit dem Ende von Technologien auseinandersetzen.

Das ist doch ein sehr gutes Schlusswort! Lieber Herr Professor Schulz, lieber Herr Göbel, vielen Dank für das gute, intensive Gespräch.

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