Ökonomie und Natur: Erfolg beginnt mit Misserfolg

Gewinnbringende Strategien sind für Unternehmen schwer planbar. Der britische Ökonom Tim Harford zeichnet in seinem Buch „Adapt: Why Success Always Starts With Failure“ (dt. „Anpassen: Warum Erfolg immer mit Misserfolg beginnt“) erstaunliche Parallelen und findet dabei erstaunliche Parallelen zu Evolutionsprozessen in der Natur. Dieser Auszug veranschaulicht die Prozesse zur Bewältigung von Komplexität in Natur und Wirtschaft – und wirft die Frage auf, wie planbar Realität ist.

Tim Harford, britischer Ökonom © Fran Monks

© Fran Monks

Veröffentlicht am 28.02.2022

Der britische Ökonom Tim Harford zeichnet in seinem Buch „Adapt: Why Success Always Starts With Failure“ (dt. „Anpassen: Warum Erfolg immer mit Misserfolg beginnt“) erstaunliche Parallelen zwischen der Biologie und der Ökonomie. Dieser Auszug veranschaulicht die Prozesse zur Bewältigung von Komplexität in Natur und Wirtschaft – und wirft die Frage auf, wie planbar Realität ist.

Tim Harford: „Adapt: Why Success Always Starts With Failure“ (Auszug)

Die moderne Welt ist verblüffend kompliziert: Einfache Gegenstände wie ein Toaster erfordern globale Lieferketten und die koordinierten Bemühungen vieler Einzelpersonen, die über die ganze Welt verstreut sind. Viele kennen nicht einmal den endgültigen Bestimmungsort ihrer Bemühungen. Auch die Bandbreite der Produkte ist erstaunlich. Das McKinsey Global Institute schätzt, dass eine große Volkswirtschaft wie New York oder London mehr als zehn Milliarden verschiedene Produkttypen anbietet, wenn man all die verschiedenen Größen und Formen von Schuhen, Hemden und Socken, die verschiedenen Marken, Geschmacksrichtungen und Größen von Marmeladen und Soßen, die Millionen von Büchern und Musikdownloads zusammenzählen würde. Und jeden Monat kommen Millionen neuer Produkte hinzu. Die Komplexität der Gesellschaft, die wir geschaffen haben, umhüllt uns so vollständig, dass uns nicht schwindelig wird, sondern wir sie für selbstverständlich halten.

„Survival of the Fittest“ als Grundprinzip

Früher habe ich diese Raffinesse als Grund zum Feiern angesehen. Jetzt bin ich mir da weniger sicher. Eins steht fest: Diese komplexe Wirtschaft produziert enormen materiellen Wohlstand. Nicht jeder bekommt einen Anteil davon, aber weit mehr Menschen genießen heute einen hohen materiellen Lebensstandard als jemals zuvor in der Geschichte.

Biologen haben ein Wort für die Art und Weise, in der Lösungen aus dem Scheitern entstehen: Evolution. Oft zusammengefasst als „Survival of the Fittest“, ist die Evolution ein Prozess, der durch das Scheitern der weniger Fitten, also der nicht gut an die Verhältnisse Angepassten, angetrieben wird. Diese erstaunliche Komplexität entsteht als Reaktion auf einen einfachen Prozess: Man probiert ein paar Varianten von dem aus, was man schon hat, sortiert die Misserfolge aus, kopiert die Erfolge – und wiederholt das Ganze unendlich häufig. Variation und Selektion, Versuch und Irrtum, wieder und wieder.

„Fitnesslandschaft“: Lösungssuche im Gittermodell

Aber warum ist Versuch und Irrtum ein so effektives Werkzeug zum Lösen von Problemen? Der evolutionäre Algorithmus von Variation und Selektion sucht nach Lösungen in einer Welt, in der sich die Probleme ständig verändern, indem er alle möglichen Varianten ausprobiert und mehr von dem tut, was funktioniert. Eine Möglichkeit, sich diese Suche nach Lösungen vorzustellen, ist die Vorstellung einer riesigen flachen Landschaft, die in ein Gitter aus Milliarden von Quadraten unterteilt ist. Auf jedem Feld befindet sich ein Dokument: ein Rezept, das eine bestimmte Strategie beschreibt. Evolutionstheoretiker nennen dies eine „Fitnesslandschaft“. Wenn die Fitnesslandschaft biologisch ist, ist jede Strategie ein anderes genetisches Rezept: Einige Quadrate beschreiben Fische, einige Vögel, einige Menschen, während die Mehrheit einen genetischen Brei beschreibt, der nichts darstellt, was jemals in der Realität überleben könnte.

Wir haben uns eine flache Ebene vorgestellt, die sich in alle Richtungen erstreckt, aber jetzt ändern wir das Bild und sagen, dass in unserer Fitnesslandschaft gilt: je besser die Lösung, desto höher das Quadrat, das sie enthält. Jetzt ist die Fitnesslandschaft ein Durcheinander von Klippen und Abgründen, Plateaus und zerklüfteten Gipfeln. Täler repräsentieren schlechte Lösungen; Berggipfel sind gut. In einem Ökosystem sind Letztere die Lebewesen, die am ehesten überleben und sich fortpflanzen; auf dem Markt sind sie die profitablen Geschäftsideen.

Auslese in der Evolution: ein blinder Prozess

Problemlösung auf einer konturierten Fitnesslandschaft bedeutet, dass man versucht, die hohen Gipfel zu finden. In einem biologischen Ökosystem oder einer Wirtschaft bewegen sich aber die Spitzen weiter – manchmal langsam, manchmal schnell. Der biologische Prozess der Evolution durch natürliche Auslese ist völlig blind; das Finden einer Unternehmensstrategie kann ein bewussterer und weitsichtiger Prozess sein – oder auch nicht, wie wir gleich sehen werden.

Wir können uns viele Wege vorstellen, um in dieser wechselhaften und geheimnisvollen Landschaft nach Gipfeln zu suchen. Die biologische Evolution bewegt sich normalerweise in kleinen Schritten, macht jedoch gelegentlich wilde Sprünge: Eine einzige Mutation könnte einem Lebewesen ein zusätzliches Paar Beine oder eine völlig andere Hautpigmentierung verleihen. Diese Kombination, zusammen mit dem Aussortieren fehlgeschlagener Experimente, funktioniert gut. Der Prozess der Evolution hält die Balance zwischen der Entdeckung des Neuen und der Ausnutzung des Vertrauten sehr gut.

Die Evolution ist effektiv, weil sie, anstatt sich auf eine erschöpfende, zeitraubende Suche nach dem höchsten Gipfel einzulassen (einem Gipfel, den es morgen vielleicht gar nicht mehr gibt), fortlaufende, „für den Moment funktionierende“ Lösungen für eine komplexe und sich ständig verändernde Reihe von Problemen hervorbringt.

Können Unternehmen besser planen als die Natur?

Wir wissen, dass der evolutionäre Prozess durch Variation und Selektion angetrieben wird. In einer Marktwirtschaft sind ebenfalls Variation und Selektion am Werk. Neue Ideen werden von Wissenschaftlern und Ingenieuren, Managern oder wagemutigen Unternehmern entwickelt. Misserfolge werden aussortiert, weil schlechte Ideen auf dem Markt nicht lange überleben. Mit diesen Elementen der Variation und Selektion ist die Bühne bereitet für einen evolutionären Prozess oder, grob ausgedrückt, das Lösen von Problemen durch Versuch und Irrtum.

Das ist alles ziemlich kontraintuitiv, um nicht zu sagen: unbequem. Denn in der biologischen Evolution hat der evolutionäre Prozess keine Voraussicht. Er ist das Ergebnis von reinem Versuch und Irrtum über Hunderte von Millionen von Jahren. Könnte das auch in einer Wirtschaft der Fall sein, trotz aller Bemühungen von Managern, Unternehmensstrategen und -beratern?

„Biologisches Aussterben und das Aussterben von Unternehmen haben diese spezielle Signatur gemeinsam.“

Tim Harford

Aussterben von Arten und Unternehmen im Vergleich

Ein überzeugender Hinweis kommt von dem Ökonomen Paul Ormerod. Er hatte untersucht, was die Fossilienaufzeichnungen über Aussterbeereignisse in den vergangenen 550 Millionen Jahren aussagen – einschließlich Massenaussterben, die das Aussterben der Dinosaurier fast trivial aussehen lassen. Diese Aufzeichnungen zeigten eine klare Beziehung zwischen dem Ausmaß eines Aussterbeereignisses und der Seltenheit solcher Ereignisse: Ist das Aussterben doppelt so schwer, ist es viermal so selten; ist es dreimal so schwer, ist es neunmal so selten. Erdzeitalter, in denen sehr wenige Aussterbeereignisse stattfinden, sind am häufigsten. Das Muster ist sehr klar, und Biologen haben jetzt mathematische Modelle, die zeigen, wie ein blinder Evolutionsprozess in Kombination mit einem ständig wechselnden Wettbewerb um Ressourcen und einem gelegentlichen Asteroideneinschlag diese unverwechselbare Signatur hervorbringt.

Ormerod beschloss, auch die Daten für das Aussterben von Unternehmen zu untersuchen. Er studierte Statistiken über das Sterben von Großkonzernen und schließlich auch über das Sterben kleinerer Firmen in den USA und acht anderen reichen Ländern und verglich die Statistiken mit den Daten aus einer halben Milliarde Jahren des Fossilienarchivs. Die Zeitskalen waren unterschiedlich, aber die Beziehung zwischen der Größe eines Aussterbeereignisses und seiner Häufigkeit erwies sich als exakt gleich: Je größer das Aussterben, desto seltener ist es und umgekehrt. 

Unternehmen können nicht wirklich erfolgreich planen

Biologisches Aussterben und das Aussterben von Unternehmen haben diese spezielle Signatur gemeinsam. Das beweist nicht, dass die Wirtschaft tatsächlich ein evolutionäres Umfeld ist und dass sich Unternehmensstrategien eher durch Versuch und Irrtum als durch erfolgreiche Planung entwickeln, allerdings ist es ein deutlicher Hinweis darauf. Und Ormerod ging noch weiter, wiederum aufbauend auf Arbeiten von Biologen. Er nahm ein vereinfachtes mathematisches Modell des biologischen Aussterbens, das die verräterische Signatur des Aussterbens erzeugt, und passte es an, um das Leben und Sterben von Unternehmen darzustellen. Jedoch fügte er eine Wendung hinzu: Er änderte die Regeln seines Modells so, dass es einigen Unternehmen erlaubt war, erfolgreiche Planer zu sein. Diese Planer waren in der Lage, ihre Strategien so anzupassen, dass sie den Vorteil maximierten, den sie aus der Interaktion mit anderen Unternehmen in der Wirtschaft gewannen; einige konnten dies perfekt, während andere nur einen winzigen Vorteil gegenüber einem Unternehmen hatten, dessen Strategie völlig zufällig bestimmt wurde.

Ormerod entdeckte etwas Beunruhigendes: Es war einerseits möglich, ein Modell zu bauen, das die Aussterbesignatur von Firmen nachahmte. Und es war andererseits möglich, ein Modell zu bauen, das die Erfolgssignatur widerspiegelt, also manche Firmen als weniger erfolgreiche Planer darstellte und andere als durchaus erfolgreiche Planer. Aber es war nicht möglich, ein Modell zu bauen, das beide Modelle, Aussterbesignatur und Erfolgssignatur, miteinander verbindet. Die Muster des Lebens und Sterbens von Unternehmen sind im Modell „Planung ist möglich“ völlig anders als in der Realität, aber unheimlich nah an der Realität im Modell „Planung ist unmöglich“. Wenn Unternehmen wirklich erfolgreich planen könnten – wovon die meisten von uns natürlich ausgehen –, dann würde die Aussterbesignatur von Unternehmen völlig anders aussehen als die von Arten. In Wirklichkeit könnten die Signaturen kaum ähnlicher sein.

Wir müssen Fehler machen – und daraus lernen

Wir sollten keine voreiligen Schlüsse auf der Grundlage eines abstrakten mathematischen Modells ziehen. Allerdings deutet Ormerods Entdeckung stark darauf hin, dass effektive Planung, sprich Strategien kontinuierlich so anzupassen, dass sie den unternehmerischen Vorteil maximieren, in der modernen Wirtschaft selten ist. Die Interpretation der Ergebnisse deutet an, dass in einem wettbewerbsorientierten Umfeld viele Unternehmensentscheidungen getroffen werden, die nicht zu Erfolg führen. Unternehmen müssen ständig schlechte Ideen aussortieren und nach etwas Besserem suchen. Wir werden eine unangenehme Anzahl von Fehlern machen und aus ihnen lernen müssen, anstatt sie zu vertuschen oder zu leugnen, dass sie passiert sind, sogar uns selbst gegenüber. Das ist jedoch nicht die Art und Weise, wie wir es gewohnt sind, Dinge zu erledigen.

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